Dorfspiegelung

Die Frisur ist längst kaputt. So nah wie möglich hocke ich mich an die Riesenpfütze vor dem Fitnessstudio. Mitten im strömenden Regen habe ich eine Welt entdeckt, die mich gerade so sehr begeistert, dass ich buchstäblich eintauche. Auf dem Rückweg vom Friseur habe ich glatt vergessen, dass ich schnell nach Hause wollte. Stattdessen knipse ich ein Bild nach dem anderen. Ich will festhalten, wie die großen Tropfen ins Wasser platschen.

Dann entdecke ich die Spiegelung und bin nicht zu bremsen. Der Regen läuft über meine Gore-Tex Jacke, es tropft von meiner Kapuze, meine Jeans klebt. Egal. Ich bin im Fotowunderland. Eine Stimme unterbricht meine Gedanken. „Was machen Sie da?“ In der Tür der Muckibude steht ein muskulöser junger Mann. Mir wird klar, dass es vielleicht ein bisschen ungewöhnlich ist, wenn jemand am Freitagmorgen bei Starkregen auf dem Boden hockt und ein Handy in der Hand hält.

„Das ist die Pfütze?“ Ich muss sagen, im Nachhinein bin ich selbst verblüfft.

Ich mache Fotos!

„Ich mache Fotos!“, antworte ich wahrheitsgemäß. „Von meinem Auto?“ Erst jetzt entdecke ich den Wagen direkt neben mir. Den habe ich bisher gar nicht wahrgenommen. „Nein, von der Pfütze.“ Ich sehe an den Stirnfalten des Gegenübers, dass er Zweifel an meiner Erklärung hat. „Wieso von der Pfütze?“ „Es macht Spaß und sieht ziemlich cool aus.“ Ich zeige ihm die Fotos. Er staunt. „Das ist die Pfütze?“ Seine Vermutung hat sich nicht bestätigt, dafür aber vermutlich der erste Eindruck, er habe es hier mit einer völlig Verrückten zu tun. 

Ich bin so Feuer und Flamme, dass ich die klamme Kälte des Regens kaum wahrnehme. Ich habe gerade entdeckt, dass sich in den extremen Pfützen das ganze Dorf spiegelt. Auf diese Weise habe ich meine Heimat noch nie erkundet. Ich beschließe, mir noch etwas Zeit dafür zu nehmen. Der Papierkram zu Hause kann noch etwas warten. Während ich den Dorfkern über den Umweg der Spiegelungen in neuem Glanz betrachte, denke ich noch über die Begegnung beim Fitnessstudio nach. Der junge Mann hat die Pfütze auch gesehen, aber er hat offenbar etwas völlig anderes wahrgenommen als ich. Dafür ist mir sein Auto nicht einmal aufgefallen. Ich bin froh, dass er mich angesprochen hat. So konnte ein Missverständnis ausgeräumt werden. Und zusätzlich hat er mir die Augen für seine Sichtweise geöffnet. Was ich tue, ist für andere nicht unbedingt nachvollziehbar. Oft zweifle ich an mir, weil ich spüre, dass ich manchmal andere Dinge sehe, als die meisten Menschen in meinem Umfeld. Aber als ich zuhause die nassen Klamotten ausziehe, breitet sich ein wärmender Gedanke in mir aus. Es braucht die Menschen, die das Auto sehen und die, die von der Pfütze daneben begeistert sind. Es braucht den Typ in der Muckibude und die Hobbyfotografin, die sich die neue Frisur vom Starkregen zerstören lässt. Und am schönsten ist es, wenn jeder ein Stück seiner Welt mit dem anderen teilt.

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(c) Ramona Eibach, www.funkelflocke.de

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