Einsiedler

Nackt. Schutzlos. Die Weite des Meeres umgibt Bernhard. Über ihm kreisen Möwen. Ängstlich schaut der Einsiedlerkrebs auf sein weiches ungeschütztes Hinterteil. Er unternimmt einen letzten Versuch. „Hey! Gib mir mein Haus zurück!“ Doch Paguru ist schon außer Sichtweite.

Die beiden sind zusammen groß geworden. Seit sie auf der Welt sind, leben sie in leerstehenden Häusern von Wasserschnecken. Ohne diese Panzer sind sie leichte Beute. Ihr heller Körper leuchtet förmlich in der dunklen Umgebung des Wattenmeeres. Er ist weich und ein Leckerbissen für Seevögel. Bernhard läuft ziellos umher. In Todesangst. Vielleicht passiert ein Wunder. Ein passendes Haus, irgendwo. Gerne zwänge er sich auch in ein kleineres. Was ist bloß mit Paguru los? Schon als sie Kinder waren, hat er andere immer um deren Häuser beneidet. Hatte er ein braunes, hätte er lieber ein schwarzes gehabt. Hatte er ein größeres mit Seepocken darauf, hätte er lieber ein kleines mit Grünalgen gehabt. Zuletzt hat er Bernhard sogar um sein altes abgeranztes Gehäuse beneidet. Dabei war es zunächst eine Notlösung gewesen. Bernhard hatte es in letzter Minute gefunden. Er war so stark gewachsen, dass er kaum noch Luft in seinem bisherigen Zuhause bekam. Er musste sich dringend häuten.

Bernhard ist nackt und schutzlos ohne sein Haus.

Das neue schwarze Häuschen war nicht perfekt. Es hatte ein Loch in der Außenwand, aber Bernhard war zufrieden. Er entfernte ein paar Zwischenwände, streifte den alten Panzer ab und zog ein. Er liebte das neue Zuhause. Sogar das Loch darin. Er lernte es als Fenster schätzen. Paguru hat ihn anfangs ausgelacht. „Schämst du dich nicht? Die alte Baracke, die du da mit dir herumträgst, ist echt eine Schande für alle Einsiedlerkrebse!“ Bernhard tut der Weggefährte leid. „Könnte er doch nur das Besondere in der Welt genießen. Dann wäre er viel glücklicher.“ Doch Paguru will immer lieber besitzen.

Paguru schleppt Bernhards Haus.

„Jetzt besitzt er zwei Häuser“, denkt Bernhard. „Aber er wird schnell merken, dass ihm das zur Last wird. Er kann sie nicht weit tragen und am Ende muss er sich entscheiden.“ Vor lauter Sorge um den Artgenossen vergisst Bernhard fast, dass er selbst in Lebensgefahr schwebt. „Habe ich etwas falsches getan? Habe ich zu oft erzählt, wie toll mein Haus ist?“ Bernhard spürt, wie Selbstzweifel sich in seinem nackten Körper ausbreiten. Er hat gehofft, Paguru sei sein Freund. Ja, er ist stolz und manchmal herablassend, aber zwischenzeitlich sehr hilfsbereit. In diesen Phasen überhäufte er Bernhard mit Lob und Anerkennung. Manchmal hat der Einsiedler gar nicht verstanden, was jetzt so toll war. Aber es tat gut. Es fiel ihm nie schwer, dem Weggefährten zu vergeben. Gerade in den letzten Tagen war Paguru ihm wieder sehr nahe gewesen. „Ich befreie dich jetzt von deiner Last“, hat er gesagt. So rechnet Bernhard mit einer Umarmung. 

Paguru überwältigt Bernhard von hinten.

Dann stürzt sich Paguru plötzlich auf ihn und zerrt ihn aus seinem Haus. Bernhard versucht, es ihm abzuringen, aber es ist vergeblich: Paguru ist stärker.

Der nackte Bernhard (oben) und Paguru kämpfen um das Haus.

Er lacht: „Die alte Hütte ist sowieso nichts wert! Sei froh, dass du sie los bist!“ Das sind Pagurus letzte Worte, bevor er mit Bernhards Haus verschwindet. Er ist weg. Vom Wattboden verschluckt. Mit ihm sein Haus. Bernhard ist erschüttert. Er hat seinen Schutz verloren, sein Freund hat ihn verlassen und bald wird er selbst vermutlich eine leckere Mahlzeit abgeben.

Sein Lebensmut scheint in der Meeresbrise davon zu wehen. „Hab ich überhaupt etwas richtig gemacht?“ Immerhin ist es ganz normal, dass Einsiedlerkrebse sich Häuser ihrer Artgenossen zulegen. Sie sind oft schon umgebaut und sehr begehrt. Gerade dann, wenn Zwischenwände herausgebrochen worden sind, sind sie besonders bequem.

„Bin ich selbst Schuld an dem Dilemma? Hätte ich vorsichtiger sein“…
Seine Frage kann Bernhard nicht mehr bis zum Fragezeichen denken. Ein Schatten schiebt sich über ihn. Der Schlick um ihn herum bewegt sich, er bebt. Etwas zieht ihn hoch, er schließt die Augen und strampelt – zum letzten Mal?
Er fällt. Landet im weichen Watt. Er schaut sich um. „Wo bin…?!“ Was er sieht, übersteigt seinen Verstand. Direkt vor ihm: Ein Haus! Es ist leer! Bernhard schlüpft hinein. Es passt wie angegossen. Moment mal. Fühlt er richtig? Ist das da ein Loch? Kein Zweifel: Es ist nicht irgendein Haus, es ist sein Haus. Paguru hat es liegen gelassen!

Bernhard schlüpft in das leerstehende Haus.

Bernhard muss schmunzeln. Er kennt Paguru schon so lange. Immer wieder hat er miterlebt, wie er anderen ihre Häuser genommen hat. Er kennt Paguru gut. Er hat gewusst, dass das Haus zu klein für ihn sein würde. Bernhard zieht sich zurück und schaut aus dem Fenster in den blauen Nordseehimmel. Die dunklen Wolken über der See ziehen vorbei. Paguru hat sich genauso verzogen. Mit ihm seine Häme. Für immer. Bernhard spürt, wie sich neuer Lebensmut in ihm ausbreitet. Der graue Himmel über ihm hat blaue Stellen bekommen. Einzelne Sonnenstrahlen erhellen das Watt. Bernhard sieht sich um. Er genießt die Weite des Meeres. Endlich wieder Zuhause. „Ich bin bedeckt und sicher. Ich bin hier richtig“, denkt er. „Ich bin überhaupt richtig. Ich war es die ganze Zeit.“ 

(c) Ramona Eibach, www.funkelflocke.de

Anmerkung: Den Kampf zwischen den Einsiedlerkrebsen haben meine Tochter und ich live beobachtet und dokumentiert. Leider sind die Bilder zum Teil unscharf geworden. Ich hatte nur ein Handy dabei. Die Wasseroberfläche spiegelt stark, aber trotzdem habe ich mich entschieden, die Bilder einzufügen. Sie gehören einfach dazu!

Da die echten Protagonisten der Geschichte mir ihre Namen nicht verraten haben, habe ich welche erfunden. Die Geschichte dazu kam mir in den Kopf. Sie ist natürlich sehr frei erzählt. Aber am Ende hat der Dieb tatsächlich das gestohlene Haus liegen gelassen. Die Geschichte lässt vermuten, dass wir den verletzlichen Krebs zu seinem Haus gebracht haben. Tatsächlich haben wir das Haus vor ihn gelegt und so eine Möwe um ihr Mittagessen gebracht. Möge die Natur uns diesen kleinen Eingriff verzeihen.

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