Der Hibiskus ist nicht mehr zu finden. Normalerweise reckt er schon Anfang September seine wunderbaren lila Blüten zum Himmel empor. In diesem Jahr vermisse ich sie. Deshalb mache ich mich auf die Suche.
Ich finde die Schönheiten im Geäst der Nachbarbüsche. Dort hocken sie schüchtern, blühen unbeachtet und ungesehen vor sich hin. Ich habe mir gewünscht, dass die Terrasse blickdicht ist, aber die Hecke ist wohl im wahrsten Sinne des Wortes übers Ziel hinausgeschossen. Keine Frage: Was blüht hat Beachtung verdient. Kurzerhand nehme ich Trittleiter und Heckenschere. Auf der obersten Stufe balancierend schneide mit wackligen Knien Ast für Ast weg. Bei jedem Schnitt wächst meine Freude. Ich spüre, wie der verborgene Strauch zur Geltung kommt, wieder Licht auf unsere Terrasse dringt.
Ein Rückschnitt für seelischen Fortschritt
Als ich den Astschnitt zu einem ansehnlichen Haufen aufschichte, bin ich sicher: Dies war nicht mein letzter Freischnitt.
Ich finde es ein bisschen schräg, mein Seelenleben mit unserer Terrasse zu vergleichen, entscheide mich aber trotzdem dafür. An beiden Stellen finde ich eine Menge Wachstum, mit all dem Wildwuchs, der dazu gehört. Genauso wünsche ich mir mein Leben.
Doch manchmal verstecke ich das, was im Verborgenen zu blühen begonnen hat. Mitunter schäme ich mich sogar dafür. Ich entscheide mich, einen Freischnitt zu wagen, der das, was im Inneren liegt, zum Leuchten bringt. Ich merke, dass es mich Überwindung kostet, zur Schere zu greifen, Wildwuchs zurückzuschneiden, aber auch zu zeigen, was im bunten Lebensastwerk versteckt liegt. Ich brauche Mut, mich verletzlich zu machen. Denn zerbrechliche, zarte Schönheit lohnt es zu zeigen.
(c) Ramona Eibach, www.funkelflocke.de