Blühende Holunderbüsche rufen vom Straßenrand: “Das Holunderblütengelee ist alle.” Der Apell in mir wird lauter mit jedem Tag, an dem ich durch die Wälder fahre. Nie hätte ich gedacht, dass ein tiefes Bedürfnis beim Marmeladekochen gestillt werden sollte.
Der Juni blüht mich an.
Ich kann ihm nicht widerstehen. Also nehme ich mir trotz der Aussicht auf Abwaschberge und einen Vormittag in der Küche die Marmeladenkoch-Aktion für den nächsten freien Tag vor. Erstmal suche ich einen tauglichen Holunderbusch. Der erste hat noch schöne flauschige Blüten. Ich komme bloß nicht ran. Er ist umgeben von kniehohen Brombeersträuchern. Mit denen lege ich mich nicht an. Ich klappere andere bekannte Ecken ab. Meine Erkenntnis: Ich bin zu spät dran. Es sind schon grüne Beeren dran. Was ich stattdessen brauche, sind schöne staubige Blüten.
Ich gehe ein Stück zu Fuß in den Wald hinein. Da finde ich ein wunderschönes Exemplar im Schatten! Hier, wo die Sonne nicht so stark hinscheint, sind die Blüten genauso, wie ich sie brauche.

Ich staune, pflücke, tauche ein in Schönheit. Diese Pflanze ist so schön! Vor meinem Auge eröffnet sich ein Blütenmeer aus hunderten winzigen Schönheiten auf jeder Dolde. Sie duften unfassbar nach Frühling. Ich verliere jedes Gefühl für Raum und Zeit. Dann realisiere ich, dass mein Korb voll ist – ich übrigens auch. Von oben bis unten vollgepudert mit Blütenstaub. Der Duft füllt meinen Korb, mein Auto, später Küche und Flur.

Eigentlich habe ich keine Lust mehr. Ich nehme die Schere, schneide vorsichtig die kleinen Blütchen von den Dolden. Da passiert es wieder. Ich spüre nur noch Schönheit – Duft und unglaubliche Faszination. Es öffnet sich etwas in mir, das ich lange gesucht habe: Die Tür zu meiner inneren Ruhe. Sie durchströmt mich, und hält auch noch an, als ich alles fertig eingelegt in den Keller zum Durchziehen bringe. Dankbar kehre ich jetzt innerlich in die Küche zurück und widme mich dem Abwasch. Ich bin extrem nachdenklich.
Was bitte war das?
Wie kann ich so ausgeruht aus einer zweistündigen Holunderblüten-Hauruck-Aktion rauskommen? Ich war mit der Natur eins gewesen. Ich habe im Takt meines Herzens gearbeitet. Mit meinen Händen, meinen Augen und der Nase. Es war, als nähme mich die große Mutter Natur an die Hand und zeigte mir, wer ich bin: Ein Teil von ihr.
Leider vergesse ich das zu oft. Ich habe mit der Zeit um die Wette gearbeitet, mich darüber geärgert, dass Holunderblütensaison ausgerechnet dann ist, wenn mein Plan voll ist. Der Lohn war Erschöpfung.
Die kommenden Tage habe ich dieses Gefühl mitgenommen. Bei der Weiterverbeitung der Blüten, bei der Gartenarbeit, beim Kindergeburtstag. Einfach mal ein paar Minuten die Beine im Bach baumeln lassen. Trotz der Arbeit Pausen machen. Die Saison spüren. Solche Holunderblüten-Tage brauche ich öfter.
(c) Ramona Eibach, www.funkelflocke.de
