Kastanientraum

Schon als Kind habe ich ihren Glanz geliebt. Sie liegen so schön fest und glatt in der Hand. Kastanien faszinieren mich. So sehr, dass ich immer von einem Kastanienbaum im Garten geträumt habe. Vor 11 Jahren haben wir ihn dann gepflanzt. Ausgesucht in der Baumschule, rotblühend und damals 7 Jahre alt.

Von aufmerksamen Nachbarn wurde ich gewarnt: „Der macht ne Menge Dreck!“ Das hat mich nicht abgehalten. Dreck gehört zum Leben und der Kastanienbaum war einer meiner Träume. Der Song Haus am See von Peter Fox lief damals im Radio rauf und runter. Ich dichtete den Refrain um, ergriffen von meinem Traum: „In der Querstraße steht ein Haus am Bach, Kastanienbaumblätter liegen auf dem Dach…“

Mein Kastanientraum ist wahr geworden

Nie hätte ich gedacht, dass das Bäumchen tatsächlich so groß wird. Heute ist er volljährig und strahlt in jedem Jahr mit seinen wunderschönen roten Blüten über unserer Terrasse. Er steht am Bach, in den er in jedem Herbst unzählige Blätter und Früchte fallen lässt. 
Ich könnte den Song inzwischen auch weitertexten: „Ich habe drei Kinder und mein Mann ist schön…“ (Also zumindest, wenn er beim Friseur war…) Ich muss bei dem Gedanken schmunzeln, dass er das hier liest, das gebe ich zu.

Perfekt gewachsen
Zurück zum Baum: Im Herbst sammeln unsere Kinder die Früchte, fahren die glänzenden Schätze mit der Kinderschubkarre umher, oder stopfen sich die Taschen voll. Ein Traum ist wahr geworden. Der Baum ist riesig. Ein Mitarbeiter der Baumschule, bei dem ich ihn damals gekauft habe, zeigte sich verwundert darüber. Er sagte, rotblühende Roßkastanien seien deutlich kleiner als die weißblühenden Artgenossen. Dem Baum gehe es offensichtlich sehr gut. Zugegeben, ich habe manchmal ein mulmiges Gefühl, weil der Baum zum Riesen mutiert ist. Also bestellte ich einen Menschen vom Garten-Landschaftsbau, der ihn beschneiden sollte. Doch er weigerte sich, die Säge anzulegen. Einen solch perfekt gewachsenen Baum werde er nicht anrühren, sagte er. Also ließ ich ihn andere Pflanzen im Garten beschneiden. Der Kastanienbaum ist aber unversehrt, nur einzelne extrem lang geratene Äste mussten wir absägen. 

Frucht, wo man sie nicht erwartet
Oft denke ich über den Baum nach, wenn ich im Garten bin. Das Leben ist unglaublich. Es entsteht aus einem kleinen Samen und wuchert und wächst so kraftvoll, dass es mir durchaus Angst einjagen könnte. Kinder sind das pralle Leben schon im Mutterleib. Es lässt sich nicht aufhalten, es wächst, bringt Früchte, vermehrt sich. Das hätte ich auch nie in Frage gestellt, zumal der Kastanienbaum ja ein Beweis für die Kraft der Natur ist. Aber dass ich selbst auch Früchte bringe und mich kreativ vermehren kann, das ist für mich eine neue Entdeckung. Ein Geistesblitz, der meine Sichtweise revolutioniert. Diese Wahnsinnspflanze ist hier, weil ich davon geträumt habe, dass es sie gibt. Meine Kinder sind da, weil wir sie uns gewünscht haben. Es gibt unzählige Texte von mir, Malereien, Stellen, an denen ich mich handwerklich eingebracht habe. Das Leben sprudelt aus mir heraus und ich muss nichts dazu tun, außer es zu leben. Ich will etwas – und auch mich – bewegen, Gutes in meine Kinder hineinlegen, Neues schaffen, Texte schreiben, Bilder malen, im Garten arbeiten. Im Rückblick tue ich das Meiste davon schon seit ich einen Stift halten kann. Aber ich habe das nie als Frucht wahrgenommen oder als etwas Besonderes. Denn es wächst aus mir heraus. Aber das Potential davon wird mir erst heute klar, als ich sprachlos vor diesem unfassbar starken, schönen und großen Gewächs mit seinen hunderten Blüten stehe. Ein Traum, ein Samenkorn und ein paar Hände, die tief gegraben haben, haben das hervorgebracht. Ich träume weiter, grabe weiter. Egal wie absurd der Traum sein mag, egal, wie viel “Dreck” und Laub ich in jedem Herbst in die braune Tonne schaufeln muss. Egal, wie schlecht die Prognose ist: Heute wird bewusster geträumt und gepflanzt. Ich bin soweit. Das Leben darf wachsen, blühen, Früchte tragen, Laub werfen und Dreck machen. Es ist so schön, dass ich dabei sein darf. Den ein oder anderen “Kastanientraum” will ich noch träumen und leben.
(c) Ramona Eibach, www.funkelflocke.de

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