Es sind nur zwei Striche. Und doch zittert der Kuli in meiner Hand, als ich mein Kreuz mache. Ich weiß nicht, was schlimmer wiegt: Die Sorge vor einer neuen großen Koalition oder der Gedanke, dass ich nichts richtig machen kann. Noch nie habe ich mich nach dem Gang zur Urne so schlecht gefühlt wie in diesem Jahr.
Meine Tochter hat nach der Wahl ganz andere Gedanken. Als ich mit gesenktem Kopf nach Hause gehe, hopst sie fröhlich neben mir her: „Mama, wieso kann man LIEBE wählen?“
LIEBE. Die Partei hat sie auf meinem Wahlzettel gesehen. Die Achtjährige hatte vor der Wahl einen großen Wunsch. Sie wollte ein einziges Mal sehen, welche Parteien es gibt. Deshalb habe ich sie in die Wahlkabine mitgenommen. Dort durfte sie meinen Stimmzettel ausführlich studieren, bevor ich mein banges Gestrichel auf ihn hingezögert hab. Von allem, was zur Wahl stand, ist bei meiner Tochter nur die LIEBE hängen geblieben. obwohl auch noch andere attraktive Begriffe wie „Fortschritt“, „Du“, den Stimmzettel zierten.

Ich gestehe, ich habe diese Gruppierung bisher nicht wahrgenommen. Deshalb habe ich bei der Bundeszentrale für politische Bildung nachgeschaut:
„Europäische Partei LIEBE. […] Liebe ist für die Partei Ausgangspunkt und Triebkraft jeglichen gesellschaftlichen Zusammenlebens und politischen Handelns. Dies umfasst Liebe und Respekt gegenüber Mitmenschen, aber auch gegenüber Tieren und der Natur. Hierauf basieren die zentralen Programmpunkte und Forderungen der Partei.“
Wahlversprechen gehalten
Wäre es nur so einfach für mich gewesen, Liebe zu wählen. Ich habe mich mit der Wahl abgequält und unter den ersten Vier mein Kreuzchen gemacht. Meine gewagte Hoffnung: „Hoffentlich, oh hoffentlich geht es nicht weiter wie bisher.“
Die Berliner Runde nimmt mir diese Sorge nicht. Wahlprogramme sind Schall und Rauch. Gerade, wenn mehr als zwei Parteien verhandeln: Alle müssen Kompromisse machen, auch gegebenenfalls Versprechungen zurück nehmen.
Aber warum fühle ich mich schlecht? Ich habe mich für die Wahl entschieden und damit immerhin eine Person glücklich gemacht. Ich konnte meiner Tochter ihren Herzenswunsch erfüllen. Ich konnte mein Wahlversprechen einhalten. Auch wenn mein Kreuz woanders war, habe ich letztlich auch Liebe gewählt. Das ist das Schöne. Um sie zu wählen, brauche ich keinen Stimmzettel. Das kann ich jeden Tag. Mit kleinen Entscheidungen. Ein Lächeln, ein Kompliment, eine Umarmung, ein Eis, ein Versprechen einhalten. So banal wie ein Kreuz bei der Wahl. Nur dass ich hierbei nicht zittern muss, was daraus wird.
(c) Ramona Eibach, www.funkelflocke.de