Schnee von gestern

Mitte Januar hat es drei Tage lang heftig geschneit. Es häuften sich die Nachrichten: Ein Unfall hier, Schneewehen dort, Winterdienst überlastet. Während wir uns mit dem Schneeschieber quälten, musste ich an meine Kindheit denken.

Damals wohnten wir in einer stark abschüssigen Straße. Am Ende befand sich ein Wendehammer. Wer einmal unten war, musste also wieder hoch. Das führte dazu, dass Autofahrer die Gasse im Winter mieden. Wir rasten manches Mal unbehelligt mit dem Schlitten bis in den Wendehammer. Wenn sich dann doch der Schneepflug dorthin verirrte, bewarfen wir ihn mit Schnee-Bällen. Ich fand Schnee großartig, aber die Erwachsenen, die morgens aus dem Loch rausmussten, um zur Arbeit zu kommen, teilten meine Begeisterung nicht.

Mit dem Schnee haben wir unwissentlich Laub und Dreck zusammengeschoben.

Wer Schönes im Schnee finden will, muss Kinder fragen. Bei mir war es in diesem Winter die Neugier einer Künstlerin, die mir ein neues Bild offenbarte, das mich staunen ließ: Noch zwei Wochen nach dem Schneetreiben fand sich ein dreckiger, kärglicher Rest des ehemals weißen Zeugs in unserer Einfahrt. Schnee von gestern. Erinnerungen an den riesigen Berg, den wir in stundenlanger Knochenarbeit zusammengeschoben haben, um mit dem Auto die Einfahrt befahren zu können. “Mount Everest” haben die Kinder ihn genannt, weil er sie an Höhe überragte. Sie haben ihn bestiegen und stolz auf dem Gipfel Posen gemacht. 

Mit dem Schnee haben wir unwissentlich Laub und Dreck aufgehäuft. Das Tauwetter deckt das gnadenlos auf. Irgendwie zieht mich die Szene magisch an. Ich verstehe schnell, dass Schmutz der kleinere Teil der winterlichen Hinterlassenschaft ist. Im Grunde besteht sie aus winzigen Eisklumpen.

Vor meiner Handykamera formen sich plötzlich kunstvolle Skulpturen

Was von Weitem unansehnlich war, sind vom Tauwetter polierte Kristalle. Ich gehe näher ran, vergrößere mit dem Zoom meiner Handykamera. Kunstvolle Gebilde aus Schnee und Eis zeigen sich. Eine besonders dreckige Ecke ekelt mich zuerst, doch meine Neugierde überwindet das Gefühl. Wie ein quengelndes Kind fragt sie: “Wie sieht der schwarze Schnee auf dem Foto aus?” So knipse ich auch dort.

Es lohnt sich, hinzuschauen 

Einmal ganz kurz wagt sich die Sonne hinter den Wolken hervor. Ich bin gebannt von so viel Schönheit und Einzigartigkeit. Es muss lustig aussehen, wie ich mit dem Handy um den Mini-Haufen herumlaufe. Ich kann mir gut vorstellen, dass ich ein komisches Bild abgebe. Aber ich habe gerade etwas neu erkannt, das mir schon oft begegnet ist: Wenn ich mich traue, zweimal hinzuschauen, entdecke ich an ungewöhnlichen Stellen unter Umständen Schätze, die ich nicht vermutet habe. Den Dreck habe ich aus der neuen Perspektive nicht mehr wahrgenommen. Schnee von gestern lässt mich unter Umständen das Funkeln im Heute erkennen. Für mich hat sich der zweite Blick hat gelohnt.

(c) Ramona Eibach, www.funkelflocke.de

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