Mehr Strahlen für die Sonne

Irgendwann braucht selbst der energiegeladenste Mensch eine Pause. Das ist auch mir durchaus schon passiert. Was aber, wenn die Sonne nicht mehr strahlen will? Auf diese Frage habe ich meine ganz persönliche Antwort gefunden. Diesmal in Form einer Geschichte für erwachsene Kinder.

Mehr Strahlen für die Sonne

„Sonnenschein, Sonnenschein, Sonnenschein. Von morgens bis abends. Es nervt mich nur noch. Ich bringe keinen müden Strahl mehr zustande. Keine Pausen, ständig muss ich andere wärmen und ihre Welt erleuchten. Ich mag die Menschen, Tiere und Pflanzen. Aber ich glaube, sie wissen gar nicht, wer ich wirklich bin. Sie sehen nur meine Strahlen und nicht mich.“

Mit kleinen Äuglein blinzelte die Sonne die Erde an. „Ach Erde, sie kennen dich und all deinen Reichtum. Sie liegen an deinen Stränden und lachen. Sie grillen, sie feiern. Ich fühle mich einsam hier oben. Mich kennt keiner von ihnen. Mein Strahlen nehmen die Menschen gerne, aber mich selbst sehen sie nicht. All die Explosionen in mir drin kennen sie nicht. Sie sehen nur die liebe Sonne. Ich kann nicht mehr.“ Die Erde stutzte. Seit Jahrmillionen kannte sie jetzt die große helle Freundin. Sie strahlte normalerweise ununterbrochen. Doch so hatte sie sie noch nie erlebt. Kein Zweifel, sie war immer noch das hellste Objekt im Sonnensystem. Aber tatsächlich wirkte sie in letzter Zeit seltsam matt.

Kein Zweifel, die Sonne war immer noch das hellste Objekt im Sonnensystem. Aber tatsächlich wirkte sie in letzter Zeit seltsam matt.

Der blaue Planet seufzte: „Wie kann ich dir denn helfen? Ich tu, was ich kann. Ohne dich gäbe es gar kein Leben auf mir! Ich bin nur eine winzige blaue Kugel. Du bist ein riesiges brennendes Feuer. Du könntest mich locker mit deiner Hitze verbrennen! Ohne dich gäbe es mich gar nicht! Du tust so viel für mich und meine Bewohner. Ich helfe dir gerne!“ „Bitte Erde, versteck mich eine Weile. Mir ist kalt geworden, hier im großen weiten All. Ich möchte, dass mich eine Zeitlang kein Mensch zu Gesicht bekommt.“ Die Erde war ratlos. Wie sollte gerade sie der gigantischen Sonne zur Seite stehen? Gegen sie war sie nur ein winziger Punkt im Universum. Wenn die Sonne ein Wasserball wäre, wäre die Erde nur so groß wie das Ventil. Und genau so ein Ventil wurde jetzt gebraucht. Klarer Fall: Bei der Sonne war die Luft raus und wer ärgerlich ist, den muss man schon mal zischen lassen. Die kleine Blaue wollte dafür sorgen, dass es der großen Freundin besser ging. Sie versprach: „Ich lasse mir bis morgen was einfallen.“

Gesagt, getan: Die Erde hatte sich noch nicht einmal ganz um die eigene Achse gedreht, als ihr etwas klar wurde: Die Sonne hatte schon für die Menschen geschienen, bevor es einen von ihnen gegeben hatte. Sie hatte ihre ersten Strahlen geworfen, bevor die Menschheit das Rechnen erfunden hatte und bevor die Erdbewohner geahnt hatten, was „Zeit“ überhaupt ist. Stattdessen stritten sich die Menschen darüber, ob das Sonnensystem Milliarden von Jahren alt sei oder „erst“ einige hunderttausend Jahre. „Das muss anstrengend sein!“, dachte die Erde. Sie bewunderte die Sonne für ihre Größe, ihre unerschöpfliche Energie, für ihre strahlende Schönheit. Auf ihr brodelten unzählige Vulkane. Ihre Kraft überstieg bei weitem ihre Vorstellungskraft. Sie selbst kannte auch das Gefühl, ausgebeutet zu werden. Menschen nahmen sich andauernd mehr von der Erde als sie geben konnte. Ständig war sie damit beschäftigt, sich zu regenerieren, Neues zu produzieren. Manches war auch für immer zerstört. Das bereitete ihr Schmerz. Trotzdem freute sie sich über das Leben, über Menschen, Tiere und Pflanzen, die auf ihr und durch sie lebten. Manche Menschen kämpften unerbittlich für sie und dafür, dass die Umwelt gesund blieb. Die Erde wusste, wer sie für ihre Bewohner war: Sie bedeutete ihnen die ganze Welt. Was die Sonne für die Erdenbewohner bedeutete, konnte sie selbst nicht sagen. Die große brodelnde Energiequelle schwebte unverrückbar im All da draußen, konnte sich nicht vom Fleck rühren, während sie, die kleine wendige Blaue um sie herum kreiste. Für die Menschen war es normal, dass die Sonne schien. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass sie mehr war, als ein Wetterphänomen. Wenn sie Pläne schmiedeten, sollte die Sonne mitspielen. Hochzeiten sollten im Sonnenschein stattfinden, Grillfeiern, der Freibadbesuch. Manche Menschen nahmen das Wetter wie es kam, anderen konnte es nicht recht sein. Sie meckerten bei jedem Wölkchen und im Sommer jammerten sie über die Hitze.

Die Erde schmiedete einen Plan: Die Sonne sollte sich ausruhen. So traurig, wie sie gestern gewesen war, hatte sie ihre langjährige Begleiterin noch nie erlebt. „Sie muss wieder lernen, dass Strahlen sich lohnt! Sonst brennt sie irgendwann aus.“
Was ein Burnout der Sonne für sie selbst und die anderen Planeten im Sonnensystem bedeuten würde, wusste der kleine blaue Planet genau: Das Ende. Also fasste die Erde schweren Herzens einen Entschluss. Sie berief eine Konferenz des Sonnensystems mit dem Mond und den Sternen ein und hielt ein leidenschaftliches Plädoyer für die Sonne. „Die Lage ist ernst, Freunde! Die Sonne braucht eine Pause! Ununterbrochen scheint sie. Sie ist traurig! Seit einiger Zeit hat sie einen Teil ihres Glanzes verloren. Ich mache mir große Sorgen! Gestern morgen hat sie ganz matt ausgesehen. Sie hat mich um Hilfe geben. Sie möchte eine Pause machen, ihr Strahlen wiederfinden. Ich habe eine Idee, wie das gelingen kann. Aber dazu brauche ich eure Hilfe! Wenn sie ausbrennt, bricht unser ganzes System zusammen!“

„Was ist dein Plan? Ich bin dabei!“, donnerte der kräftige Saturn durch das All und hielt zum Beweis seinen Ring in die Höhe. „Wir errichten der Sonne ein Bett in der Milchstraße. Ich werde sie dann in leichten weiß-grauen Schleierwolken einhüllen. Sie soll ein Jahr lang schlafen. In dieser Zeit wird weniger Licht als sonst auf meinen Erdboden fallen. Aber es wird ausreichen, damit alles überleben kann. Die Sonne wird vor Blicken geschützt und kann sich ausruhen. Die Sache hat nur einen Haken: Die Menschen werden ein Jahr lang keinen einzigen Himmelskörper außerhalb am Himmel sehen können. Deshalb brauche ich eure Zustimmung“.
Die Venus, die dafür bekannt war, besonders liebevoll zu sein, war sofort begeistert. Trotzdem fiel ihr die Entscheidung schwer. In den Sommermonaten schenkte sie jeden Morgen als Morgenstern der Menschheit einen Lichtpunkt für den Tag. Die Planetin war länger zu sehen, als alle Sterne. Darauf würde sie dann schweren Herzens verzichten müssen, bis sich die Sonne erholt hatte.

Die anderen Himmelskörper waren nicht erfreut. Der schöne rote Mars setzte sich gerne in Pose, wenn er ein Teleskop auf sich gerichtet wusste. Er wollte seine Aufmerksamkeit nicht einbüßen.

„Uns alle hinter nem Wolkenschleier verstecken, ja? Du drehst dich ständig nur um dich selbst, Erde!“, schimpfte er und lief dabei besonders rot an. „Dann bin ich kein Abendstern mehr. Jetzt bin ich der erste, der abends am Himmel erleuchtet wird. Dann bin ich faktisch nicht mehr da. Die Menschen werden mich vergessen!“ Die Venus versuchte zu schlichten: „Ruhig Roter! Die kleine Blaue dreht sich genauso auch um die Sonne, wie wir alle. Nur, falls du das noch nicht gemerkt hast! Wir müssen uns alle um die Sonne drehen. Nach ihr ist schließlich nicht ohne Grund unser System benannt! Und du bist ohne sie kein Stern. Du reflektierst nur das Sonnenlicht, wie ich und alle anderen Planeten. Die Erde hat Recht: Wenn die Sonne ausbrennt, können wir alle einpacken. Dann sieht uns die Menschheit nie wieder. Also von mir kriegst du grünes Licht, Erde!“ Da musste der Mars zustimmen. „Dann bin ich wohl überstimmt, grummelte er.“
Die Sterne bekräftigten, es werde ihnen keinen Zacken aus der Krone brechen, wenn eine Zeitlang kein Mensch sie bewunderte. Auch der Mond und die übrigen Planeten stimmten zu. Sie beschlossen einhellig ein Sabbatjahr für die Sonne.

Die Sonne war gerührt von der Fürsorge durch das System. Kurz strahlte sie ein bisschen auf. Dann ermattete sie wieder. „Ich danke euch! Ich weiß, dass ihr dafür viel Aufmerksamkeit entbehren müsst. Ihr müsst im Verborgenen scheinen. Aber am anstrengendsten wird es für Mutter Erde. Ein Jahr lang muss sie sich von der gesamten Menschheit Gemecker anhören.“ „Das kriege ich hin. Ihr nennt mich ja nicht umsonst „Mutter“. Wie alle Mütter bin ich Gemecker gewohnt! Ich bewahre meine Menschenkinder davor, auszusterben. Das können sie natürlich nicht ahnen. Es wäre mir eine Ehre, dir zu deinem alten Glanz zu verhelfen!“

So legte sich die Sonne schlafen. Die Erde nahm Wasser aus den Meeren und ließ es im Sonnenlicht verdampfen, bis eine flauschige weiß-graue Wolkendecke entstanden war. Damit deckte sie die Sonne am Abend zu. Sie versiegelte den Wolkenschleier mit einem unsichtbaren dichten Bettbezug, sodass er sich nicht auflösen konnte. „Schlaf gut und werd bald wieder gesund!“ die Venus gab der Sonne einen Kuss. Sie zuckte zurück und freute sich, dass die Sonnenenergie Energie noch ausreichte, um ihre steinigen Lippen zu verbrennen. Der Mars seufzte. Er fand sich damit ab, gerade das letzte Mal für 365 Tage für die Menschheit geschienen zu haben. Aber ihm war auch bewusst, dass er, wie auch der Mond, nur das Sonnenlicht reflektierte. Die Erde prüfte, ob das Sonnenlicht noch ausreichte, um Leben auf dem Erdboden möglich zu machen. Alles war so, wie es sein musste. Die Nacht war dunkel. Dort, wo es auf der Erde hell war, war es ein grauer Tag. Das Sonnenlicht brach sich in der Wolkenhülle und so zeigte sich um die Sonne herum ein schwacher Regenbogen.

Das Sonnenlicht brach sich in der Wolkenhülle und so zeigte sich um die Sonne herum ein schwacher Regenbogen.

„Unfassbar! Ein Wunder!“ Die Menschen in Afrika feierten begeistert die Wolkendecke und hofften auf Regen. Die Meteorologen waren völlig durcheinander. Überall Schleierwolken! Aber warum bedeckten sie gleichmäßig die ganze Erde? In China freute man sich auf eine gute Reisernte. In Südeuropa staunten die Bauern. In Afrika hofften die Menschen auf das Ende einer Dürre. In Deutschland ärgerten sich viele Menschen über den bewölkten Himmel. Freibäder blieben leer. Die staatlich geförderten Sonnenkollektoren produzierten weniger Strom. Biergärten verzeichneten deutliche Gewinn-Einbußen. Das Bier schmeckte bei Sonnenschein einfach besser. Nach einigen Tagen regnete es. Die Meteorologen staunten nicht schlecht: Über den Regenwolken befand sich noch eine Wolkenschicht.

Sie wurde nicht dünner und nicht dicker. Immer gleichbleibend weiß-grau. Dahinter konnten sie ganz klar die Umrisse der Sonne erkennen. Sie wirkte so friedlich umrahmt von dem zarten Regenbogen. Die sozialen Netzwerke füllten sich mit Fotos vom „Sonnenbogen“. Was war bloß los da oben? Als die Schleierwolken auch nach Wochen nicht weg gingen, nannten die Menschen sie „Deckschicht“. Dabei konnten sie nicht ahnen, wie nah sie an der Wahrheit waren. Nach den ersten Monaten drehte sich in Politik, Wissenschaft und Medien alles um die „Deckschicht“. Die einen sprachen von einer „Deckschicht-Krise“, die anderen von einer „Wolken-Epidemie“. So bezeichneten sie eine besondere Form von Wolken, die den Himmel lange gleichmäßig leicht verdunkelt, ohne sich nach dem Regen aufzulösen. „Nach neuesten Forschungen vom Weltraum aus, sieht es so aus, als ob ein Wolkenvorhang in der Erdatmosphäre die Sonne versteckt,“ sagte der Nachrichtensprecher. „Ihr Licht ist deutlich zurückgegangen.“

Die Sonne lag in der Milchstraße und träumte von einer besseren Welt. Die Erde war in weiß-graue Watte gehüllt. Ihre Existenz schien trostlos und überflüssig. Nicht mal vom Weltraum aus konnte man ihre wahre Schönheit erkennen. Man sprach schon vom „grauen Planeten“.

Nach und nach gewöhnten sich die Menschen an die Deckschicht

Nach und nach gewöhnten sich die Menschen an die Deckschicht. Sie hatten Angst, es könne das Ende der Sonne kommen. Doch auch die wurde mit der Zeit zum Alltag. Sie gingen ein und aus wie immer, ernteten später und lernten, mit weniger Strom und leichten Wirtschaftseinbußen umzugehen. Nur die Sonnenschutz-Industrie litt schwer an der Krise. Sie war nicht mehr systemrelevant. Wissenschaftler stritten über die Gründe der Wolkendecke. Die einen sagten: „Ganz klar! Die Emissionen sind Schuld! Wir müssen Kraftwerke abstellen und Dieselfahrzeuge verbieten! Dann wird es besser!“ Der Winter war noch kälter und dunkler als sonst. In der Antarktis und der Arktis wuchs die Eisschicht rasant. In Deutschland erfanden Marketingstrategen den „Schattengarten“ und verkauften dort Dunkel-Bier. Kinder trugen Leucht-Mützen und Schuhe mit Blinklichtern. „Cloud-Wear“ war der neue Modetrend. Meteorologie wurde weltweit zu einer politisch relevanten Wissenschaft erklärt. Unter dem wolkigen Grau in Grau lief alles weiter.

In den USA wurde seit der Entstehung der Wolkendecke die Laserforschung subventioniert. Der Präsident der Vereinigten Staaten warf sich in die Brust: „Wir müssen mit einem riesigen Vergrößerungsglas sehr starke Laserstrahlen bündeln und ein Loch in die Deckschicht brennen! Dann scheint die Sonne nur über unserem Land! Wir patentieren den Sonnenschein!“

Die Sonne hörte das und fragte sich, ob sie geträumt hatte. Aber dann wurde sie zornig. Sie explodierte innerlich und fühlte sich so stark wie nie zuvor. Es brodelte und zischte in ihrem Inneren. Das Licht auf der Erde war IHRE Aufgabe! Es war unverkäuflich und sollte allen Menschen kostenlos zur Verfügung stehen! Es war an der Zeit, aufzuwachen. Und dann gähnte die Sonne.

Sie öffnete ihre Augen und lächelte die Erde an. „Guten Morgen, liebe Freundin! Es wird Zeit, den Schleier abzuwerfen. Ich fühle mich wieder wach und munter! Sie schwebte aus ihrem Sternen-Bett. Sie streckte und reckte sich, bis alle Strahlen wieder an ihrem Platz saßen. Dann brannte sie ein Loch in die Wolkendecke. Genau über Kalifornien. Doch noch bevor der Präsident „Sonne“ twittern konnte, brachen die Strahlen mit Macht durch die Deckschicht. Die Krise war beendet.

Dann brannte die Sonne ein Loch in die Wolkendecke. Genau über Kalifornien.


Menschen rannten in ihre Häuser. Sie suchten fieberhaft nach Sonnencreme und Sonnenbrillen. Nach zwei Tagen lagen sie wieder an den Stränden, die Biergärten waren voll und auch Sonnenhüte konnten wieder produziert werden. Menschen tanzten und freuten sich. Sie zeigten in den Himmel und freuten sich über Sonnenschein, Sterne, Mond und Planeten. Ihre Welt war wieder hell. Der graue Planet war wieder blau. Die Erde genoss die Wärme, mit der die Sonne sie umgab. An die dunkle Vergangenheit der großen Freundin erinnerten nur noch Fotos, auf denen der „Sonnenbogen“ zu sehen war.

Die Sonne hatte ihr Strahlen wiedergefunden

Die Sonne hatte ihr Strahlen wieder gefunden. Und die Erde strahlte mit. Sie hatte das ermöglicht. Sie hatte sich selbst zurück genommen. Ihre Schönheit verhüllt und die Menschheit ein Jahr lang in einen Schleier gehüllt. Sie freute sich über die höheren Eisberge und schmunzelte über Dunkelbier und Cloud-Wear. Sie dachte: „Die Menschheit ist wie sie ist! Ihr Gemecker nehme ich gerne in Kauf. Es wird mich nicht daran hindern, ab jetzt jeden Sonnenstrahl und jede Wolke noch mehr zu genießen!“

(c) Ramona Eibach, www.funkelflocke.de

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